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Das eingeschossige Amerika

Imperien schauen sich an

3668 Ilfpetrow heißt ein geheimnisvoller, 1982 von der sowjetischen Astronomin Ljudmila Georgijewna Karatschkina entdeckter Kleinplanet, getauft auf die Namen des bis heute überaus populären Schriftstellerduos Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, das vor allem durch seine Romane Zwölf Stühle (vielfach verfilmt) und Das Goldene Kalb bekannt wurde. https://de.wikipedia.org/wiki/Ilf_und_Petrow
       Weniger bekannt ist, dass Ilf und Petrow Mitte der Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion und während der Wirtschaftskrise in den USA, vier Monaten lang unter der kundigen Führung von Solomon Trone (einem aus dem Baltikum stammenden sowjetischen und in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Ingenieurs, dessen Lebensgeschichte ein knappes Jahrhundert umfasst und ein eigenes Buch wert wäre) die USA von Ost nach West und, zurück über die Südstaaten, von West nach Ost bereisten und darüber einen faszinierenden Reisebericht in Wort und Bild verfassten. Dieser ist inzwischen (mit großem Erfolg) auch in Deutschland angekommen. (Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika // www.die-andere-bibliothek.de).
       10 000 Meilen (16 000 Kilometer) Reisebericht, der seine Leser nicht nur zum Mitreisen, sondern förmlich zum Nachreisen einlädt. Anfang September 2015 macht sich die Schriftstellerin Felicitas Hoppe zusammen mit den Bildenden Künstlern und Fotografen Alexej Meschtschanow und Jana Müller und der österreichisch-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Ulrike Rainer vom Dartmouth College/New Hampshire auf den Weg. Die geplante Reiseroute folgt dabei, neben einem Abstecher in eigener Sache nach Kanada, jener der beiden Odessiten.
       Ziel des Vorhabens ist nicht nur die Spiegelung zweier (ehemaliger) Großreiche, sondern darüber hinaus vor allem die Konfrontation mit der aktuellen Sachlage, das Wagnis also, 80 Jahre danach eine erneute Bestandsaufnahme zu versuchen und sich u.a. mit Fragen wie diesen zu beschäftigen: Was ist aus dem Land der Wünsche und Verheißungen geworden, welche Metamorphosen hat es durchlaufen, wie und wo ist es heute nicht nur (geo)politisch, wirtschaftlich und spionagetechnisch, sondern vor allem auch künstlerisch, sozial und religiös zu verorten? Und was ist derweil aus seinem Gegenüber, der ehemaligen Sowjetunion geworden? Vor allem aber – last but not least – wie spiegeln sich in Zeiten aktuell wieder heftig umkämpfter Territorien wie der Ukraine (dem Herkunftsland Ilfs und Petrows) diese beiden in ihrer Schnittmenge – dem höchst komplizierten Gebilde der Europäischen Union?
       Reisend unterwegs, auf Haupt- und Nebengleisen, Geschichten und Bilder sammelnd, versuchen wir schauend, hörend, zeichnend und schreibend, mit wechselnden (virtuellen wie echten) Gästen im Cockpit ein gelobtes Land diesseits und jenseits seiner Verheißungen zu erkunden. Die Idee der Nachreise ist alt, weshalb die Erfahrungen großer Vorläufer, unter ihnen Alexis de Tocqueville, Max Weber, Johan Huizinga und Theodor W. Adorno, selbstverständlich mit im Gepäck sind. Aber es sind nicht die großen, sondern die vermeintlich kleineren Geister, Tote und Lebende gleichermaßen, mit denen wir unterwegs ins Gespräch kommen möchten.
       3668 Ilfpetrow ist nicht nur der Taufname für einen außerirdischen Kleinplaneten, der uns erlaubt, das menschliche Drama von außen zu betrachten, sondern auch, ganz pragmatisch, der Zugangscode für unsere Website, auf der wir mit Texten, Bildern und O-Tönen in Deutsch, Russisch und Englisch alle Interessierten einladen, unsere Reise zu begleiten. Genau ein Jahr vor der Neuwahl des/der amerikanischen Präsidenten/in scheint uns der Zeitpunkt für eine Relecture von Ilf und Petrow besonders ergiebig.
 
Eine begonnene Reise kennt kein Ende. Sollte das Wetter günstig sein, ist unser Unternehmen auf Fortsetzung aus, die eine Reise in die Heimat Ilfs und Petrows (Odessa) ebenso vorsieht wie eine umgekehrte Reise von Westen nach Osten, die uns von Berlin aus durch die Weiten Sibiriens über Alaska und Kanada am Ende in jene phantastische Welt zurückbrächte, in der Ilf und Petrow damals keinesfalls bleiben wollten: nach Hollywood nämlich. Chance und Glückauf!
 
Berlin, im September 2015: Felicitas Hoppe, Alexej Meschtschanow, Jana Müller und Ulrike Rainer

 

Originalroute 1935











Link to American road trips

www.atlasobscura.com/articles/the-obsessively-detailed-map-of-american-literatures-most-epic-road-trips

Kolumbus geht an Land

»Dass Sie Amerika entdeckt haben, will noch gar nichts heißen. Wichtig ist, dass Amerika Sie entdeckt.«, schreiben Ilf und Petrow 1936 in einer Satire mit dem Titel Kolumbus geht an Land, als sie ihre große Reise, ›cross country‹ von Ost nach West und von West nach Ost, bereits längst hinter sich haben. Damit meinen sie nicht nur Amerika, sondern das Reisen insgesamt; und das unaufhörliche Schreiben darüber, das auch dann nicht aufhören wird, wenn längst alles gesagt scheint.
       Das gilt auch für »Das eingeschossige Amerika«. Denn es ist nicht nur die Genauigkeit der Beobachtung, die Bestandsaufnahme, das wache fotografische Auge, sondern allem voran die Kraft der Verwandlung der Welt im schauenden reisenden Schreiben, die die Dinge in ein anderes, weit erhellenders Licht taucht als jede Reportage es könnte; sie ist es auch, die die Lektüre von Das eingeschossige Amerika achtzig Jahre später jenseits aller Zeitzeugenschaft immer noch zu einem großen Vergnügen und zu einem eigenwilligen literarischen Reiseroman macht, obwohl Ilf und Petrow diese Bezeichnung vermutlich gar nicht für sich in Anspruch genommen hätten.
       Entdecken wir also hinter dieser nur scheinbar naiven Beschreibung der ›Neuen Welt‹ von 1936 zwei russische Schriftsteller, die aus einer ganz anderen ›neuen Welt‹ kamen und uns, anders als in ihren Briefen, nur selten verraten, wie es ihnen unterwegs wirklich ergeht in einem Land, das sie zum ersten Mal bereisen, dessen Sprache sie keineswegs mächtig sind (auch wenn sie das zu verbergen suchen) und das sie gleichermaßen begeistert, irritiert und verwirrt.
       Diskretion und die weitgehende Abwesenheit persönlicher oder ideologischer Denunziation gehören ebenso zu den Stärken des Buches wie die Abwesenheit jenes subjektiv impressionistischen Reisegefühls, das Leser von zeitgenössischen Reiseromanen so oft unbefriedigt zurücklässt. Und doch wird die Reportage, bei allem Ehrgeiz zur scheinbar nüchtern ironischen Berichterstattung im Lauf des Erzählens auf so schöne wie vertrackte  Weise Fiktion.
 
Ein Narr also, wer glaubt, Amerika zu sehen, wenn er lesenderweise mit Ilf und Petrow und ihrem persönlichen Reiseführer, dem 1872 in Lettland geborenen Ingenieur Solomon Trone, der in der Sowjetunion für General Electric arbeitete und später die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm (im Text auf geniale Weise in die unverwechselbare Figur des Mr. Adams verwandelt) und seiner amerikanischen Frau Florence (die mindestens ebenso geniale Ms. Adams alias Becky, die einzige, die tatsächlich einen Führerschein hat!) in einem kleinen grauen Ford das große Land west- und wieder ostwärts bereist. Und ein noch größerer Narr, wer glaubt, Amerika nicht zu sehen, weil er glaubt, ›sein Amerika‹ so viel besser zu kennen als jene ahnungslosen russischen Gäste.
       Denn hier sieht der Gast und lässt sich das Sprechen darüber nicht nehmen, auch wenn sich bis heute unter Lesenden wie Schreibenden hartnäckig die Meinung hält, dass, wer zum ersten Mal ein Land bereise und dort nur kurzfristig zu Besuch sei, sich darüber nicht äußern könne, weil der ›erste Blick‹ nur bedingt Gültigkeit habe, weil er kindlich, naiv, unberufen sei; von Erwartung und Vorurteil geprägt. Man unterschätze aber die Kraft des Vorurteils nicht, das uns gelegentlich weiter bringt als jene diplomatisch politische Korrektheit, die den Verkehr miteinander nicht selten so gut wie unmöglich macht, weil wir uns den Blick aufeinander mit nichts als Höflichkeiten verstellen.
       Denn entgegen der herrschenden Meinung, die ständig von Kennerschaft spricht, wiegt, wie in jeder menschlichen Begegnung, auch auf Reisen (und auf Reisen besonders) der erste Blick weit schwerer als alles andere, weil man im Vorbeigehen, im Vorüberfahren auf endlosen Straßen, weit mehr sieht und mehr zu erzählen hat als alle selbstberufenen Zeugen zusammen, die (aus Not die einen, aus Neigung und Aussicht auf Vorteil die anderen) seit Jahren hier leben, in ängstlicher Anwärterschaft auf Einwohnerschaft, und darum vorgeben, alles besser zu wissen als der, der zum ersten Mal reist und sieht.  
       Aber da ist nichts zu machen. Der Gast sieht nun mal anders als der Gastgeber; wo nicht mehr, so doch klarer, denn die Konturen treten schärfer hervor, gerade weil er nur auf der Durchreise ist und keine Zeit zu verlieren hat – das macht ihn, auf höchst produktive Weise, unberechenbar frei.   
 
Von dieser Unberechenbarkeit, von der Freiheit und Naivität des Gastes, ist der Text getragen und wird damit zu einem Gespräch zwischen jenen, die zum ersten Mal reisen, und ihrem schon vor Jahren eingewanderten Führer Mr. Adams, der während der Reise andauernd glaubt, eine Lanze für seine Wahlheimat brechen zu müssen:  »Ja, ja, Gentlemen, es wäre töricht zu glauben, Amerika sei durch und durch standardisiert, hier jagten die Menschen nur dem Dollar nach, spielten Bridge oder Poker. Nein, nein, Gentlemen!«
       Im Lauf der Reise und ihrer Erzählung wird die Geschichte zwischen Gentleman und Gentlemen zu weit mehr als einer Addition der Beobachtungen der Erstreisenden Ilf und Petrow. Tatsächlich wird sie, je länger und weiter sie reisen, allmählich zur Geschichte ihres Gastgebers und Routenplaners, der sich, auf so begeisterte wie gequälte Weise, zum wiederholten mal auf dieselbe Reise begibt und dabei zum Gast im eigenen Land wird, in einem Land, das er »wie seine Westentasche« kennt, also längst für ›entdeckt‹ hält und das trotzdem niemals das eigene ist. Vermutlich ist das der Grund dafür, warum er einfach nicht aufhören kann zu sprechen; wie alle, die sich ihrer Sache nicht sicher sind und denen das scheinbar vertraute Gelände plötzlich wieder ›terra incognita‹ wird. Der Gedanke gefalle uns oder nicht: Wir alle sind Reisende der ersten Stunde.
       Allerdings ist Mr. Adams mehr als nur ein literarischer Trick, also nicht, wie man anfänglich annehmen könnte, nur dazu erdacht, den roten Erzählfaden der Reise zu spinnen. In Wahrheit ist er, handwerklich ausgedrückt, wie geschaffen für einen Roman, also einfach eine gute Figur, vielleicht sogar die schönste von allen. Ein Geschenk an den Leser wie an seine beiden Erfinder, denen er über kurz oder lang zum willkommenen Spiegel wird, weil Mr. Adams alles in sich vereint, was die beiden reisenden Gäste beschäftigt: den Auswanderer und den Einwanderer, Abschied und Ankunft, die Kunst der Anverwandlung und des Vergessens gegen das Heimweh und die Erinnerung. Und die noch viel größere Kunst der unmöglichen Moderation zwischen zwei Kulturen, die, wie man die Geschichte auch wendet und dreht und wie sehr sich die beiden Gesichter auch gleichen (Imperium Ost und Imperium West), am Ende eben doch unversöhnlich bleiben: »Wenn Amerika sowjetisch wäre, dann wäre es das Paradies.«
 
Aber: »Amerika ist ein Land, das in all seinem Denken und Handeln Einfachheit und Klarheit liebt. Reich sein ist besser als arm sein. Und statt Zeit auf das Nachdenken über die Ursachen der Armut zu verschwenden und diese zu beseitigen, versucht der Amerikaner mit allen Mitteln, eine Million zu verdienen.« Natürlich wird einem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass es im Text wimmelt von jenen kleinen Tributen, die die Reisenden ihrer Heimat zollen, als hätten sie Angst, es könnte womöglich ein Zweifel daran aufkommen, dass es nirgends schöner sein kann als zuhause, auch wenn es zuhause (man lese Ilf und Petrow, die gesammelten Werke) alles andere als schön ist. (Denn zuhause in der Sowjetunion geht es längst um Leben und Tod.)
       Dass Amerika weder paradiesisch noch sowjetisch ist, versteht sich von selbst. Und doch bleiben die an die Heimat gezollten Tribute allgemein, formelhaft, gebetsmühlenartig, und täuschen an keiner Stelle über die Faszination hinweg, die das Gastland auf seine Besucher ausübt. Der größte Narr also jener sowjetische Leser, der, als Ilfs und Petrows »Amerika« erstaunlicherweise tatsächlich erscheint, vom Verlag in die Pflicht genommen und auf sein Leseerlebnis hin befragt, seinerseits einen Katalog von Fragen vorlegt:
       »Ich lese gerade das Buch von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, ›Das Eingeschossige Amerika‹. Das Buch interessiert mich sehr. Ich bitte die Redaktion, mir auf einige Fragen zu antworten: Soll man dieses Buch als einen Reisebericht der Autoren ansehen oder ist es einfach ein fantastischer Roman? Wenn es ein fantastischer Roman ist, dann muss man, um so etwas zu schreiben, sehr viel mehr über Amerika wissen. Wenn es eine Erzählung ist, dann wird die Lage der Werktätigen wenig beleuchtet. (…) Schreiben Sie mir bitte, welches Ziel sich die Autoren mit diesem Werk gestellt haben. Wenn ich eine Antwort auf diese Fragen habe, dann teile ich Ihnen meine Eindrücke ausführlicher mit. (…)«
       Hier, achtzig Jahre später, meine Antworten: 1. Es ist, was sonst, ein fantastischer Roman, dieses Genre beherrschen die Russen seit je. 2. Es kommen viele Werktätige vor. Allerdings selten als Helden. 3. Das Ziel der Autoren: Darüber kann ich keine nähere Auskunft geben. Teilen Sie uns bitte trotzdem Ihre Eindrücke mit.
       Das ist, zugegeben, billiger Spott auf Kosten des Lesers, der auf mich selbst zurückfällt, auf den nachgeborenen Besserwisser, weil ich beim Lesen jene Geschichte überspringe, die sich nicht überspringen lässt, jene Phase der großen Annäherung zwischen den USA und der Sowjetunion; noch keine Rede vom ›kalten Krieg‹, dafür von Technikbegeisterung und Neugier getragen, von dem uns zwischenzeitlich absurd erschienenen Glauben an den ›neuen Menschen‹, der, auf überraschende und bedrohliche Weise zu Beginn des 21sten Jahrhunderts höchst perfektioniert, längst wieder auf dem Vormarsch ist.
 
Und doch gibt es, bei aller Vorsicht und jenseits aller Versuche einer genauen Lektüre im historischen Kontext, etwas, das weit über diesen Kontext hinausgeht und das hier nicht unerwähnt bleiben soll: Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen, weil der Leser, von der ersten Seite an, unwiderruflich mit von der Partie ist, weil es kindliche Freude bereitet, mit Ilf und Petrow ein Schiff zu besteigen (die Normandie), den Atlantik zu überqueren und ein Schiff zu begehen, das man niemals von außen sieht; weil man Freude an den Mitreisenden hat (›Familie Butterbrot‹) und, wenn plötzlich ein Sturm aufkommt, den Bodenbelag zu betrachten beginnt, dessen Vorzüge man erst zu schätzen weiß, »wenn das Schiff zu schaukeln beginnt. Die Schuhsohlen kleben geradezu daran fest. Das schützt zwar nicht vor der Seekrankheit, bewahrt einen aber vor Stürzen.«
       Die Schiffsreise ist nur der Anfang, die Ouvertüre zu einer großen Reiseschule des Sehens und Hörens, die zu Wasser beginnt und sich später an Land mit derselben Genauigkeit der Beobachtung und Einfühlung fortsetzt: »Zum ersten Mal im Leben hörten wir, wir ein Handtuch klingt, die Seife, der Teppich auf dem Fußboden, das Papier auf dem Schreibtisch, Vorhänge und selbst ein auf das Bett geworfener Kragen. Alles in der Kabine tönte und dröhnte. Wenn der Passagier sich eine Sekunde in Gedanken verlor (…) begannen seine Zähne zu klappern. (…) Allein in unserer Kabine entdeckten wir an die hundert verschiedene Geräusche.«
 
Und dann sind wir da, in der ›neuen Welt‹, Abenteuer und Geheimnis zugleich: »Über geschlossene Gänge gelangten die Passagiere in die Zollhalle, erledigten die Formalitäten und traten auf die Straße hinaus. Das Schiff, das sie über den Ozean gebracht hatte, bekamen sie auch jetzt nicht zu Gesicht.« Und: »Als wir endlich gehen konnten, war es schon Abend. Ein weißes Taxi mit drei leuchtenden Laternen auf dem Dach, das wie eine nostalgische Kutsche wirkte, brachte uns zum Hotel.«
       Wie eine »nostalgische Kutsche« wirkt auch jener legendäre »kleine graue Ford«, mit dem, einen Monat später, Ilf und Petrow in der Begleitung von Mister und Misses Adams ihre große Reise durch den nordamerikanischen Kontinent antreten. Kurz vor Reisebeginn besuchen die Russen (auf Vermittlung von Ernest Hemingway) noch das berüchtigte Gefängnis von Sing Sing, eine Schlüsselszene, nicht nur was Mister Adams betrifft, der plötzlich unbedingt wissen will, wie sich ein ›Todeskandidat‹ fühlt: » (…) ›Nein, nein, Gentlemen, murmelte er dabei, es dauert nicht lange.‹ Er nahm auf dem geräumigen Sitz Platz und schaute uns triumphierend an. (…) Den Helm bekam Mr. Adams nicht aufgesetzt, aber er bettelte so lange, bis man ihm wenigstens das nackte Ende des Kabels auf seinen schweißglänzenden Kopf legte. Für eine Minute wurde uns angst und bange. Aus Mr. Adams Blick dagegen sprach nichts als grenzenlose Neugier. Man sah sofort, dass er zu dem Menschenschlag gehört, die alles selbst erleben, mit eigenen Händen betasten, selbst sehen und hören wollen.«
       Die so alte wie grausame Erkenntnis, dass Fortschritt und Vernichtung nah beieinander liegen und wie wenig, egal wo, ein Menschenleben tatsächlich zählt, begleitet uns auf der ganzen Reise. In Mister Ripleys ›elektrischem Haus‹ begegnen wir wenig später dafür den Sonnenseiten der Elektrizität und dem, was ›Publicity‹ bedeutet, ein Phänomen, das die beiden Russen besonders beschäftigt: »Nachdem uns Mr. Ripley noch rasch eine elektrische Maschine zum Schlagen von Eiern gezeigt hatte, forderte er uns auf, mit ihm nach oben ins Schlafzimmer zu gehen. Dort zog er sein Jackett aus und legte sich aufs Bett. (…) ›Sie brauchen keinerlei Bewegungen zu machen. Sie schnallen sich nur an und schalten den Strom ein. Der Apparat massiert sie auf das gründlichste durch.‹ (…)«
       Eine Vorführung, die sowjetische Leserinnen überzeugte: »Ob Amerika mir gefallen hat? Überhaupt nicht. Das Einzige, worum ich die Amerikaner beneide, das sind die Ehrlichkeit der Leute und der Einsatz der Elektrizität, besonders in der Hauswirtschaft, da ich nur Hausfrau bin und viel Zeit mit Primuskochern und Petroleumlampen verbringen muss.«
 
Ein anderes beeindruckendes Kapitel schildert den Besuch bei Henry Ford, der, aus Prinzip, kein Büro besitzt ( Das ist wahre Macht: immer überall und nirgends zu sein!) und ein Museum über Edison aufbaut, in dem die große Geschichte des Fortschritts eindrücklich dokumentiert werden soll: »In diesem armseligen Holzhaus mit knarrenden Dielen (…) wurde die Technik unserer Tage geboren. Spuren von Edisons Genie und seinem titanischen Fleiß sind heute noch zu sehen. (…) Als wir das Laboratorium betraten, empfing uns ein krausköpfiger alter Mann mit glühenden schwarzen Augen (…), ein ehemaliger Mitarbeiter Edisons, offenbar der einzige, der noch lebte. (…) Der Alte zeigte uns die erste Glühlampe, die in der Welt aufleuchtete. Er spielte uns das Ereignis regelrecht vor: Wie sie um das Lämpchen herumsaßen und auf das Ergebnis warteten. Alle Glühfäden flammten für einen Moment auf und brannten sofort durch. Schließlich aber war einer gefunden, der nicht erlosch. Sie saßen eine Stunde, und die Lampe brannte immer noch. Sie saßen zwei Stunden, und die Lampe glühte weiter. Da blieben sie die ganze Nacht sitzen. Das war der Sieg. ›Ohne Edison keine Wissenschaft!‹, rief der alte Mann aus.«
       Und ohne Ilf und Petrow kein Amerika! Also reisen wir weiter, von Osten nach Westen, über Chicago (wo man traurigen ausgewanderten russischen Geigern im Konzertsaal zuhören kann und über das Verhältnis der Amerikaner zur Kunst erfährt, was Alexis Tocqueville schon hundert Jahre früher wusste, als er über die Demokratie in Amerika schrieb – nämlich das sie keins haben: »Die Darbietung war tadellos. Im Saal löste sie keine sichtbaren Emotionen aus.«), bis in die Heimat Mark Twains nach Hannibal (»In diesem Sessel (…) hat Tante Polly immer gesessen, und durch dieses Fenster ist der Kater Peter gesprungen, als Tom Sawyer ihm Rizinusöl eingeflößt hatte.«), und von dort aus immer weiter nach Westen, durch die Wüste, durch den Grand Canyon, bis in den ›Goldenen Staat‹, in das gelobte Land Kalifornien, nach San Francisco und schließlich nach Hollywood.
 
Darüber ist weiter kein Wort zu verlieren, nicht weil sich das Sprechen darüber nicht lohnt, sondern weil es viel schöner ist, selbst zu lesen, was uns allen bekannt ist. Oder zumindest bekannt vorkommt. Denn es ist ja, wie immer, das scheinbar Bekannte, das die Lust an jeder Lektüre erhöht und das Vergnügen des Lesens steigert, weil wir abzugleichen versuchen, was wir glauben, selber gesehen zu haben.
       Wer Amerika kennt, erkennt alles wieder und sieht trotzdem alles anders und neu, durch die Lupe einer Vergangenheit, die zur Kenntlichkeit hin vergrößert, dass wir selbst dieser Jahrhundertmann Adams sind (für den Fall, dass wir einen Führerschein haben, womöglich auch seine Frau!), der erste Mensch in der neuen Welt; weshalb es natürlich das Beste wäre, wir könnten sofort ein Schiff (oder Flugzeug) besteigen und noch am selben Tag ein Auto mieten (es muss ja kein Ford sein), um, ich weiß nicht, zum wievielten Mal, selber von Osten nach Westen zu fahren.
       Denn plötzlich möchte ich wieder wissen, was stimmt und was nicht, was wahr ist, was falsch, was erlogen und was nur ehrlich erfunden, was Anekdote ist und was Ideologie. Vor allem aber möchte ich sehen, was ich ganz offenbar übersehen habe, als ich zum ersten Mal dort war. Aber das alles werde ich niemals erfahren, genauso wenig wie ich erfahren werde, wie Ilf und Petrow sich wirklich fühlten, als sie mit Mister und Misses Adams durch das eingeschossige Amerika reisten.
       Die Geschichte verwandelt sich. Und kommt trotzdem, indem sie sich ständig verwandelt, immer auf dasselbe zurück. Weshalb es nicht weiter überrascht, dass wir, wenn wir Ilf und Petrow lesen (oder Tocqueville), das Gefühl haben, ›up to date‹ zu sein. Denn nichts ist bewältigt und nichts vergessen; die indianischen Ureinwohner so wenig wie die viel beschworene ›Rassenfrage‹; und in Hollywood tragen die Frauen bis heute, egal, in welchem historischen Film, die aktuelle Tagesfrisur.
       Kein Grund zu spotten. Aber nachdenken kann man darüber schon, warum Ilf und Petrow, als sie den legendären ›Russenhügel‹ besuchen, wo sie zu Gast bei den ›Molokanern‹ sind (eine ausgewanderte russische Sekte), die Lieder von vor hundert Jahren hören, von Sängern, die kein Wort Englisch können: »Der gewaltigste der Molokaner, ein älterer Mann mit Metallbrille und graumeliertem Bärtchen, holte plötzlich tief Luft und begann mit ungewöhnlich starker Stimme zu singen, so laut, dass es uns zunächst beinahe schien, er singe nicht, sondern schreie:
 
Matt bin ich vor Gram und Sorge,
Dieser Schlange fürchterlich,
Brenne ab, mein kleiner Kienspan.
So wie du verbrenn auch ich.
 
Alle Männer und Frauen fielen ein. Sie taten das ebenso wie ihr Vorsänger – mit voller Stimme. Der Gesang hatte keinerlei Nuancen. Die Leute sangen Fortissimo, nur Fortissimo, mit all ihrer Kraft, als wollten sie einander überschreien. (…) Ungeachtet der Lautstärke lag Wehmut darin. (…) Dieses Lied hatten die Menschen an der Wolga gesungen (…), jetzt sangen sie es hier in San Francisco, im Staate Kalifornien. Würde man sie nach Australien, Patagonien oder auf die Fidschi-Inseln vertreiben, dann sängen sie es wohl auch dort. Das Lied stellte alles dar, was ihnen von Russland geblieben war. (…) Mr. Adams (…) stimmte in den Gesang der Molokaner ein.«
 
2006 erschien unter dem Titel »Ilf and Petrov’s American Road Trip in New York« eine Neuauflage des Reiseberichts der beiden Russen, die neben Textauszügen und zahlreichen Fotos, die Ilf mit seiner Leica machte, auch einen Essay von Alexander Rodschenko enthält, in dem der berühmte Fotograf anmerkt, die Fotografien Ilfs entbehrten der ironischen Aussagekraft ihres beiliegenden Reiseberichts. Umso schöner also, dass es jetzt eine deutsche Ausgabe gibt, die sich erlaubt, den so ernsthaften wie komischen Text, der die Reiseberichte romanhaft ergänzt, in voller Länge zu drucken und auch die Briefe und Bilder in ihr aussagestarkes Recht zu setzen, weil sie uns Ilf und Petrow auch als die zeigen, die sie dann sind, wenn sie laienhaft deutlich die Zähne zeigen. Denn: »Die Amerikaner lachen und blecken ständig die Zähne. Nicht weil gerade etwas Lustiges passiert ist, sondern weil das zu ihrem Stil gehört.«
       Ein Stil, den der sterbende Schriftsteller Lincoln Steffens, seinen Besuchern zufolge, auf dem Totenbett folgendermaßen kommentierte: » (…) ›Ich kann nicht länger hier bleiben‹, sagte er leise und drehte seinen Kopf zum Fenster, als wirke die leichte freie Natur Kaliforniens erstickend auf ihn. ›Ich kann dieses idiotische optimistische Lachen nicht mehr hören.‹ (…) Während wir Pläne schmiedeten, lag Steffens, von dem Gespräch erschöpft, in seinem Bett, und eine seiner Hände ruhte auf der Schreibmaschine. Still, in weißem Hemd mit offenem Kragen, abgemagert, mit dünnem Hals und kleinem Bärtchen erinnerte er an den sterbenden Don Quichotte.«
       Dass wir Amerika entdeckt haben, will gar nichts heißen, solange Amerika seinen Don Quichotte nicht entdeckt. Aber das kann im Land des Lächelns noch dauern.
 
Gekürzte und aktualisierte Fassung des Vorworts von Felicitas Hoppe zur deutschen Ausgabe von Das eingeschossige Amerika von Ilf und Petrow (Andere Bibliothek, 2011. Aus dem Russischen übertragen von Helmut Ettinger)
 
Mit freundlicher Genehmigung der AB (Andere Bibliothek)
Hoppebüro 2015

http://pjanse.home.xs4all.nl/Ilf-Petrov/biography.html