14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen
Als wir dreißig Meilen von Schenectady fort waren, sagte Mrs. Adams zu ihrem Mann: »Es wird kalt. Setz deinen Hut auf.«
Mr. Adams rutschte eine Weile auf seinem Sitz herum, erhob sich ein wenig und suchte mit den Händen unter sich. Dann bückte er sich tief hinunter und wühlte unter seinen Füßen. Schließlich wandte er sich zu uns um.
»Gentlemen«, sagte er mit kläglicher Stimme, »könnten Sie einmal nachsehen, ob mein Hut bei Ihnen liegt?«
Der Hut war nicht da.
Mrs. Adams fuhr an den Straßenrand. Wir stiegen aus und begannen systematisch zu suchen. Wir schauten ins Gepäckfach und öffneten alle Koffer. Mr. Adams klopfte sich sogar auf die Hosentaschen. Der Hut war weg.
»Dabei«, bemerkte Mr. Adams, »erinnere ich mich genau, dass ich einen Hut hatte.«
»Du erinnerst dich tatsächlich?«, fragte seine Frau mit einem Lächeln, das Mr. Adams erbeben ließ. »Was für ein hervorragendes Gedächtnis!«
»Das ist mir völlig unverständlich«, murmelte Mr. Adams. »Der schöne Hut …«
»Du hast deinen Hut in Schenectady vergessen!«, rief seine Frau.
»Nein, Becky! Sag doch nicht so was – in Schenectady vergessen! O nein. Es tut mir weh, wenn du sagst, dass ich meinen Hut in Schnenectady vergessen habe. Nein, ernsthaft, das kannst du nicht behaupten!«
»Wo ist er dann?«
»Nein, Becky, mal ernsthaft, wie soll ich dir denn sagen, wo er ist?«
Er zückte sein Taschentuch und wischte sich damit über den Kopf.
»Was ist denn das?«, fragte Mrs. Adams.
»Ein Taschentuch, Becky!«
»Das ist kein Taschentuch. Das ist eine Serviette. Gib mal her. Natürlich. Eine Serviette mit den Initialen des Hotels. Wie ist sie in deine Tasche gekommen?«
Mr. Adams wand sich. Er stand neben dem Wagen, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und trat von einem Bein aufs andere. Regentropfen fielen ihm auf den rasierten Kopf.
Wir debattierten eingehend die entstandene Lage. Den Hut hatten wir zum letzten Mal am Morgen im Hotelrestaurant gesehen. Er lag neben Mr. Adams auf einem Stuhl. Beim Frühstück hatten wir einen großen Streit über den italienisch-abessinischen Krieg.
»Offenbar hast du da auch statt des Taschentuchs die Serviette eingesteckt!«, vermutete Mrs. Adams.
»Ach, Becky, rede doch nicht so mit mir: die Serviette eingesteckt. Nein, nein, nein. Es ist grausam von dir, so etwas zu sagen.«
»Was machen wir denn jetzt? Wegen deines Hutes nach Schenectady zurückfahren?«
14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen, Seite 169
fotografiert im Hotel Zero 1, Zimmer 1105, Montreal am 12.9.2015, © JM
14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen
Nein! Amerika ist nicht zu packen!
Die Werbung gehört zum Leben der Amerikaner. Wenn sie eines schönen Morgens erwachten und die Werbung verschwunden wäre, dann befänden sich die meisten wohl in einer höchst verzweifelten Lage. Sie wüssten nicht mehr:
Welche Zigaretten sollen wir rauchen?
In welchem Geschäft unsere Kleidung kaufen?
Mit welchem Getränk unseren Durst stillen – mit Coca Cola oder Ginger Ale?
Welchen Whisky sollen wir trinken – White Horse oder Johnny Walker?
Welches Benzin kaufen – von Shell oder von Standard Oil?
An welchen Gott glauben – den der Baptisten oder der Presbyterianer?
Es wäre einfach unmöglich zu entscheiden:
Soll man Kaugummi kauen?
Welcher Film ist gut, welcher einfach genial?
Soll man als Freiwilliger zur Navy gehen?
Ist das Klima in Kalifornien gesund oder ungesund?
Und überhaupt: Ohne Werbung würde sonst was passieren! Das Leben wäre unwahrscheinlich kompliziert. Bei jedem Schritt im Leben müsste man selber nachdenken.
14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen, Seite 173
fotografiert im Motel Twin Oaks, Zimmer 7, New Castle am 13.9.2015, © JM
Gretzkys Katze vor 80 Jahren
fotografiert in Brantford am 14.9.2015, © JM
14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen
Gegen Abend erreichten wir die Niagarafälle.
Von feinem Nebel umhüllt, schauten wir lange auf die Tausenden Tonnen Wasser, die sich von der Höhe eines Wolkenkratzers in die Tiefe stürzen. Bisher war es noch nicht gelungen, dieses Wasser in Flaschen zu füllen und als das erfrischendste und gesündeste Getränk zu verkaufen, das gut für die Schilddrüse ist, das Studium der Mathematik unterstützt und einem hilft, an der Börse erfolgreich zu sein.
Mr. Adams rief etwas, aber gegen das Getöse des Wassers kam er nicht an.
14. Kapitel – Amerika ist nicht zu packen, Seite 179
fotografiert im Haus Neumann, Barntford am 15.9.2015, © JM
Briefe aus Amerika
Silver Creek, 10. November 1935
Liebes Töchterlein, ich bin immer noch im Staate New York, obwohl wir uns bereits 514 Meilen von der Stadt entfernt haben. Wir sitzen in einem neuen Ford von schmuckem Grau, das hier Gunmetal Grey genannt wird. Wir werden sehr gut gefahren, Trones Frau steuert den Wagen sicher und vorsichtig. Trone selbst redet ohne Pause über Amerika, das er hervorragend kennt. Es läuft also alles wunderbar.
Mit dem Auto verhält es sich so: Wir haben dafür 260 Dollar bezahlt. Wenn wir in zwei Monaten weitere 312 Dollar hinlegen, dann gehört es uns. Wenn wir das Geld nicht haben, dann müssen wir es zurückgeben und erhalten dafür 68 Dollar. Das ist in jedem Falle günstig. Der Transport nach Moskau würde 110 Dollar kosten. Wenn wir Geld übrig haben, bringen wir das Auto mit. Wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm.
Heute habe ich den Niagara-Fall besichtigt. Da ist so viel Wasser, das ich es hier nicht beschreiben werde, dafür reicht der Platz nicht aus. Ich habe Dir von dort eine Ansichtskarte geschickt, auf dem der Wasserfall zu sehen ist.
... Euer Ilja
Briefe aus Amerika, Seite 604
fotografiert im Motel Cavalier Inn, Zimmer 27, Niagara Falls (Ontario), am 16.9.2015, © JM